Neuer Lesekreis: Was ist Verdinglichung? // 17.11. 19 Uhr // translib-Raum

Do 17.11.2011
transLib
(die queercommunistische Bibliothek

im IVI Dachgeschoss, Frankfurt am Main, Kettenhofweg130)

19Uhr:
Was ist Verdinglichung?

Wir lesen & diskutieren den Begründungs-Essay des westlichen Marxismus

als Einstieg in

das berüchtigte Buch von György Lukács: Geschichte & Klassenbewusstsein.

Texte vorhanden, keine marxistischen und philosophischen Vorkenntnisse nötig.

40 Jahre nach dem Tod des bedeutenden marxistischen Theoretikers (1885 – 1971), der als „enfant terrible“ des Kommunismus immer höchst umstritten blieb, ist die Kontroverse um sein Werk wieder aufgeflammt. Es dreht sich um „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“ – so der Titel des großen Essays in seinem Buch von 1923, dessen Wirkungsmächtigkeit im 20.Jahrhundert unbestritten ist und das vor allem die kritische Theorie Adornos und W.Benjamins, aber auch des westlichen Communismus etwa der Situationist_innen zutiefst geprägt hat. Doch Lukács selbst war, als das Buch 1923 erschien, von Marx ebenso wie von Lenin, Rosa Luxemburg, Anton Pannekoek und den unterschiedlichsten, ja widersprüchlichsten Strömungen eines Rätekommunismus und zugleich Partei- und Staatskommunismus durchdrungen, die bis heute ebenso auseinanderdifferenziert wie unaufgehoben geblieben sind.

Das Problematische und dadurch zugleich Anregende dieses Beitrags ist die frühmarxistisch-kritische Aneignung und Entwendung neukantianischer, neuhegelianischer, lebensphilosophischer, ontologischer und soziologischer Denkschulen der bürgerlichen Wissenschaft durch den „Hegelmarxisten“ Lukács. Diese Mélange und ihr materialistischer Anspruch (auf eine Wiederherstellung und Erneuerung „der“ Marxschen Methode) mit dem Ziel, einen historischen Bewusstseins-„Sprung“ im Massenmaßstab bewirken zu helfen, in dem Theorie als Erkenntnis-„Blitz des Gedankens“ (Marx) in die effektive Praxis der Revolution für den Communismus umschlagen kann, bleibt nicht nur eine Herausforderung an die Kritik (auch für Lukács’ spätere theoretische Selbstkritik) sondern ist aktueller denn je: weder die in solchen „Westlichen Marxismus“ eingespeisten Denkschulen noch die treibenden Kräfte „der wirklichen Bewegung welche den jetzigen Zustand aufhebt“ (Marx’ Communismus-Definition) können als erledigt betrachtet werden. Ganz im Gegenteil: gerade nach dem menschheitsgeschichtlichen Zivilisations- und Revolutions-„Bruch“ (der Shoa) im 20.Jahrhundert hat sich die materielle Grundlage — und ihr „struktives Zentrum“ (Lukács): die Wert- und Warenform, das Geld und Kapital/Lohnarbeit — als Totalität so katastrophisch krisenhaft weiterentwickelt, dass die um sich greifende globale Barbarei sogar dem Alltagsdenken zunehmend „kapitalismuskritische“ Impulse aufdrängt. Nur bleiben diese begriffslosen Gefühls- und Staatssozialismen wiederum in eben jenen fetischistischen Formen hängen (die gefährlichste Spielart dieser „Alltagsreligion“ ist seit langem der „Antisemitismus“), zunehmend barbarischer werdende Formen „konformistischer Revolte“, die erst mit der weltgesellschaftlichen Aufhebung der kapitalistischen, d.h. mehrwertproduzierenden und auf der universalen Warenform beruhenden Produktionsweise durch die bewusst assoziierten selbstbestimmten Produzent_innen selber auflösbar sind.

Der komplexe und vertrackte Verblendungszusammenhang dieser gesellschaftlichen Verkehrungsformen, die dem Warenfetischismus entspringen, wird schon von der Marxschen dialektischen Methode als „Verdinglichung“ analysiert. Und weil Lukács in seinem Essay 1923 wie kein anderer diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt materialistischer Revolutionstheorie stellt, fordert er heute die kritische Anstrengung — nicht nur akademischer Wissenschaft, sondern vor allem der eigenständigen, selbsttätigen kritischen Praxis-der-Theorie durch die normalen Lohnarbeitenden (Proletarisierten) und Pauperisierten (Erwerbslosen etc.) – zur erneuten Auseinandersetzung mit all diesen in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ aufgebotenen und aufgemischten – zum Teil konfus anmutenden – Theorien des gesellschaftlichen Seins und Bewusstseins. (Wir verweisen hier nur auf Axel Honneths subjektivistisches Zurückbiegen der „Verdinglichung“ 2005 auf eine reformistische Demokratisierungsdoktrin, welche die Warenproduktion und die gegenseitige „Anerkennung“ von Lohnarbeit und Kapital sogar noch als Endzweck der Gesellschaftsgeschichte fixieren will).

Zur Jahreswende soll im Ca ira Verlag ein Sammelband zu der neueren Auseinandersetzung mit Lukács erscheinen unter dem Arbeitstitel „Verdinglichung heute“. Er gibt uns den Anstoß für diesen Lektürekurs.

In dem geplanten Band wird der Verdinglichungs-Essay von Lukács erneut zugänglich gemacht, er ist dort einer Reihe von kritischen Beiträgen vorangestellt, von denen wir hier einige nennen möchten:

Gerhard Stapelfeldt: ‚Katastrophe’ oder ‚Revolution’ – Georg Lukács’ dialektische Kritik des orthodoxen Marxismus

Fabian Kettner: Die Theorie der Verdinglichung und die Verdinglichung der Theorie

Biene Baumeister Zwi Negator: Lukács’ Verdinglichungskritik und die situationistische Kritik des Spektakels

Tim Hall: ‘Reification, Materialism and Praxis: Adorno’s critique of Lukács’

Hans Martin Lohmann zu Lukács’ Ignoranz gegenüber der Psychoanalyse

Gerhard Scheit: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Antisemiten. Wie hat Georg Lukács sich der Waffe der Kritik entledigt?

Unser Lektürekurs sollte auch eine Vorbereitung auf eine breitere Diskussion um die Beiträge dieses Sammelbandes ermöglichen und erleichtern.

Der Lektürekurs wird damit experimentieren, möglichst unbelastet von philosophischem, soziologischem und insbesondere marxistischem Vorwissen-als-Voraussetzung an diesen „Urtext des westlichen Marxismus“ heranzugehen. Das heisst nicht, dass sich Teilnehmer_innen, die solche Vorkenntnisse besitzen, „dumm machen“ müssten; sondern es bedeutet nur, dass bewusst eine Form der Aneignung von (wie hier bei Lukács) hochkarätig philosophisch und soziologisch aufgeladener Theoriebildung angestrebt werden kann und soll, die zum einen die permanente „Bodenhaftung“ der zum heutigen Alltagsleben und Alltagsbewusstsein – das alle Teilnehmer_innen gemeinsam haben – sucht: indem eine solche Lektüre und Diskussion Hegels Anliegen ernst nimmt, jede vermeintliche Unmittelbarkeit als eine „vermittelte Unmittelbarkeit“ zu erkennen, das heisst als historisch entstandene. Damit würde schon „entdinglicht“.

Zum andern bedeutet es die permanent zu fordernde Bemühung der akademisch und/oder marxologisch ausgebildeten „Privilegierten“, ihr Fachwissen als Voraussetzung ihres Textverständnisses mitzuteilen, für das Alltagsdenken des Normalzustands der Lohnabhängigkeit „rüberzubringen“, d.h. zu vermitteln. Folglich kann weder in der von Lukács behandelten Theorie noch in der Alltagspraxis oder auch politischen Praxis der Lesenden von dem abstrahiert werden, was historisch und sozio-ökonomisch der Wert- und Warenform zugrundeliegt, ihre (durch „stummen Zwang“ oder auch offene Gewalt permanent aufrechterhaltene) Voraussetzung bildet: der Klassengesellschaftlichkeit – der sich keine_r entziehen kann -, welche auf dem privaten Klasseneigentum an den gesellschaftlichen Produktions- und Lebensbedingungen beruht.

Ein derartiges Experiment kann keine „bruchlose“, didaktisch eingängige („Schulung“) oder konfliktfreie Lektüre/Diskussion garantieren, im Gegenteil: die Reflexion der eigenen Situation hinsichtlich „Klassenbewusstsein“, (das sich bekanntlich heute als „buckliger Zwerg“ des Communismus nicht mehr sehen lassen kann) Klassenlage und Klassenkonflikten ist für sein Gelingen vorausgesetzt. Gelingen wird der Kurs in dem Grad, in welchem die Assoziation von Fachwissen und Alltagserfahrung („Produktionswissen“ etc.) durch die Teilnehmer_innen entlang den von Lukács’ Text geknüpften Problemknoten so hergestellt wird, dass diese selbständig aufgeknotet werden können.

Indem also nicht mehr und nicht weniger als ein Problembewusstsein geschaffen wird, in dessen Herstellung das Gefälle der Klassenlagen und Bildungselemente der Lesenden, ihrer Subsumtion unter die gesellschaftlichen Teilungen der Arbeit, ein Stück weit abgetragen wird, könnte die selbsttätige Kritikfähigkeit aller als gesellschaftliche Individuen sich besser entfalten. „Die queercommunistische Bibliothek möchte sich als ein „Ort der Auseinandersetzung“ verstehen, an dem auf theoretisch-sublimierter Ebene das „queering“ experimentiert wird – begriffen als (einen Teil der wirklichen Bewegung ausdrückendes) kritisches Durchkreuzen, Aufmischen, Durcheinanderbringen, letztlich emanzipatorisches Aufheben aller „normative orders“ oder fixen, verdinglichten, herrschenden Kategorien, Existenzbestimmungen, Daseinsformen und Matrices des gesellschaftlichen und bewussten Seins, welche die schrankenlose selbstbestimmte Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, das sich Selbstzweck ist, hemmen und verhindern und welche in der bestehenden gesellschaftlichen Totalität miteinander verschränkt, voneinander unablösbar sind: wie „Geschlecht“, „Privateigentum“ und „Klassenfunktion“.“

Queering, so begriffen, wird nun auch einen Basistext des „orthodoxen Marxismus“, der sich gerade als Erneuerung der ursprünglichen Marxschen radikalen Kritik alles Bestehenden und aller Dogmen verstehen wollte, nicht verschonen. Aber auch die philosophischen Grundlagen der akademischen gender studies – zu denen Kant, Hegel, Husserl, Heidegger und andere „wh(ite)o(ld)men“ gehören, mit denen Lukács sich auseinandersetzt – können dieser Kritikmethode nicht entgehen.

Das erste Treffen aller Interessierten am Donnerstag dem 17.11.2011, 19 Uhr, soll der genauen Terminfindung für die mindestens halbjährige Lektüre dienen, die individuellen Erkenntnisinteressen zusammentragen und den hier vorliegenden konzeptionellen Ankündigungstext diskutieren.

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