januar 2011
gg_uni 12.o: naturalisierung

hier das programm zur 12. gegenuni vom 17.-22.01.2011 im ivi

das komplette programm mit kommentaren zu den einzelnen veranstaltungen als download (*.pdf)
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naturalisierung. gegenuni 12
Sowohl in den Universitäten als auch in den öffentlichen Medien ist schon lange eine Tendenz wahrnehmbar, die hauptsächlich darin besteht, naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle auf gesellschaftliche Entwicklungen anzuwenden. Exemplarisch und besonders augenscheinlich lässt sich hier die Sarrazin-Debatte im Herbst 2010 anführen. Auf Grundlage der Soziobiologie vertritt Sarrazin eine Position der Einteilung von Menschen nach Kriterien ökonomischer Nützlichkeit, die bis ins Innerste verwoben ist mit rassistischen Ressentiments. Die Einteilung in produktive und unproduktive Menschen wird grundiert durch die These, genetische und kulturelle Intelligenzdispositionen seien der Grund für die Existenz einer „Unterschicht“. Sarrazins Thesen zur Erblichkeit von Intelligenz stützen sich wie gesagt auf die Soziobiologie und wollen neben der Erklärung für den Bestand einer „Unterschicht“ auch gleich das Rezept für die Lösung liefern: mit dem „Argument“ vererbter Intelligenz wird die Klassenlage zu einer biologischen Eigenschaft von Mitgliedern einer identifizierten Gruppe erklärt. Der Furor richtet sich dabei zwar insgesamt gegen diejenigen, „die nicht ökonomisch gebraucht werden“ (Sarrazin in lettre international), richtet sich aber insbesondere gegen „Türken und Araber“, die „keine produktive Funktion“ hätten. In seinem Buch wird er dann deutlicher: Muslimische Migrant_innen hätten aufgrund von „genetischen Belastungen“ kein besonderes intellektuelles Potential, aber eine höhere Fertilität als die Intelligenten, wodurch sich, gemäß soziobiologischer Überlegungen, die „Gene jener am meisten (verbreiten), die die höchste Fruchtbarkeit haben“ (FAZ 26.08.2010). Das Rezept für die Lösung besteht in der Streichung der Unterstützung, damit sich diese Leute „auswachsen“ (lettre international), im Klartext: der biologischen Lösung überantwortet werden. Kein Geld, keine Kinder, Unterschicht stirbt aus. Die Argumentation ist einfach und gerade deshalb so bedrohlich.
Die deutsche Debatte zeichnete sich dadurch aus, dass zwar bis hin zur Bild die biologistischen Erklärungen Sarrazins als „sozial-darwinistisch“ abgelehnt wurden, während sich gleichzeitig der einhellige Tenor artikulierte, er hätte eine wichtige Debatte zur Integration von Migrant_innen angestoßen und genau darüber der Rassismus reproduziert wurde. Die mediale Bearbeitung von Fragen nach Klassenverhältnissen oder sozialer Schichtung brachte gleichzeitig Humangenetiker_innen und Hirnforscher_innen zu Wort, die inzwischen wohl mehr zur Gesellschaft zu sagen haben als beispielsweise Soziolog_innen. Die deutsche Soziologie feierte folgerichtig währenddessen ihren Abschied aus den öffentlichen Diskursen in Frankfurt beim Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Indem sie sich dort für inkompetent erklärte und den Mund hielt, zeigte sie sich in bester Tradition in vorauseilendem Gehorsam staatstreu. Dazu passend feiert in den Medien ein antiintellektueller Affekt fröhliche Urständ’, indem die Verteidigung des rassistischen Biologismus sich als Verteidigung der Meinungsfreiheit gegen „die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene“, welche gegen die Aussprache der Wahrheit die „Höchststrafe (…): Existenzvernichtung“ (Sloterdijk in Cicero Nov, 2009) verhänge; oder die „neuen linken Jakobiner“ werden angeklagt, von denen man es nicht mehr hinnehmen will, sich „den Mund verbieten zu lassen“ (Norbert Bolz in der Talkshow von Anne Will am 5.9.2010). Sarrazin wird zum Märtyrer der Wahrheit, da es gegen die Wahrheit seiner zusammengekehrten Statistiken kein Argument zu geben scheint. Nach dem letzten Kehraus Kritischer Theorie aus den Unis und dem fröhlich von den Gesellschaftswissenschaftler_innen mit¬forcierten Ende von Gesellschaftstheorie überhaupt qua Einigelung in winzigen Departements der Faktenhuberei, in denen schon die Angst vor qualitativen Methoden eingeübt wird und das eigene Tun nur mehr durch permanentes Publizieren der immer gleichen langweiligen Zahlenreihen in peer review Magazinen bestätigt wird, kommt der Positivismus zu sich selbst: die naturwissenschaftliche Methode verspricht alles messbar zu machen, aber was denn da gemessen wird steht eigentlich nicht mehr zur Debatte. Wenn aber Gesellschaft nicht mehr in Begriffen verstanden wird, sind Thesen wie die von Sarrazin konsequente Folge. So erhält der Begriff der Integration heute die Attribute, die vor einigen Jahren noch von dem Begriff der Assimilation bezeichnet wurden. Das als deutsch Identifizierte soll nun führen oder leiten alle diejenigen, die nicht schon ohnehin gern Gefolge leisten – die Bratwurst wird zur Leitkultur. Du darfst sein nur, wenn du bist wie wir (und solange wir das dulden).
Vor das offenbare Verschwinden der Gesellschaftstheorie aus der Öffentlichkeit schiebt sich seit Sarrazin eine neue Form der Naturalisierung von Gesellschaftlichem. Dank der Soziobiologie und der neuesten Hirnforschung sind, wie an Sarrazin exemplifiziert, Rassismen wieder en vogue – es ist halt das, was die Forschung sagt. Beide Disziplinen produzieren neue und/oder alte empirische „Wahrheiten“. Die Hirnforschung beansprucht für sich, individuelle Willensbildung als Funktionen des Gehirns darstellen zu können. Ein „freier Wille“ wird dort den Menschen generell abgesprochen: „Kaum ein Philosoph vertritt heute noch die Auffassung, es gäbe einen freien Willen“ (Gehirn und Geist 2/2003) – auch dieser Text ist demzufolge allein Resultat einiger Quanta Gehirnmasse, denen es an der Reproduktion der Gattung gelegen ist. Dieser Angriff ist fundamental, weil damit selbst die Möglichkeit gesellschaftlicher Emanzipation in Frage gestellt wird. Die gesellschaftliche Fremdbestimmung, wie sie sich bspw. in warenförmigen Beziehungen ausdrückt, wird durch hirnmäßige Fremdbestimmung ersetzt. Funktionelle Magnetresonanztomographie wird zum theoretisch-praktischen Werkzeug, um gesellschaftliche Subjekte als Reizreaktionsbündel zu objektivieren. Gesellschaftliche Zwänge wie Lohnarbeit finden im Hirndeterminismus keine Entsprechungen mehr und gerade das Fehlen dieser Begriffe bezeichnet das Ende der kritischen Auseinandersetzung mit ihnen.
Wie schlimm es wirklich ist, möchten wir auf der zwölften Gegenuni mit dem Schwerpunkt „Naturalisierung“ herausfinden und haben dazu einige Veranstaltungen vorbereitet.

mo 17.01.
14h workshop: mensch-natur-verhältnisse (aus geographischer perspektive)
16h lektüre: marx’ resultate des unmittelbaren produktionsprozess
18h [plenum]
19h [kantine]: konkretes essen für kleines geld
21h eröffnung

di 18.01.
16h workshop: nietzsche und der nationalsozialismus
18h workshop: begriff der metapsychologie bei freud

mi 19.01.
18h workshop: begriff der natur bei marx
20h vortrag: die körper der multitude. mit robert foltin + turn-left
22h [key_osk]: barabend

do 20.01.
14h workshop: wie reaktionär ist die romantik?
16h workshop: igitt, igitt: natur – einführung in die queer theories
18h workshop: begriff der natur in der kritischen theorie
20h vortrag: learning by undoing – gegen natur und politische bildung. mit hanni hausschuh

fr 21.01.
18h diskussion: veranstaltungsreihe zur kritik der wissenschaft

sa 22.01. natur statt gesellschaft – regression gegenwärtiger wissenschaft
17h vortrag und diskussion: soziobiologie – die wissenschaft der naturalisierung. mit christine zunke
19h vortrag und diskussion: zurück zur natur? kritik der neuropsychoanalyse. mit christine kirchhoff
21h barabend

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