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Lesekreis „Zur Kritik der dialektischen Vernunft“

Sartre spricht vor einer Menge von Arbeiter_innen.

Als Ausklang unserer Veranstaltungsreihe Existentialism revisited und zur Fortsetzung der darin angerissenen Diskussionen wollen wir uns gemeinsam in einem langfristig angelegten Lektüreprojekt die Sozialphilosophie des „Gangsterboss des Existenzialismus“ (S.I.), Jean-Paul Sartres erschließen. Bevor wir jedoch zu seinem eigentlichen sozialphilosophischen Hauptwerk, Zur Kritik der dialektischen Vernunft (1960), vorstoßen, lesen wir die wesentlich schmaleren, von Sartre auch als Einleitung zu seinem neben Das Sein und das Nichts (1943) zweitem dicken Philosophie-Schinken konzipierten, Fragen der Methode. Dieses Buch stellt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Marxismus seiner Zeit dar und ist als Antwort auf Georg Lukács‘ Schrift Existentialismus oder Marxismus (1951), die eine stellenweise äußerst polemische Kritik an den französischen Existentialisten um Sartre, Merleau-Ponty und de Beauvoir beinhaltet, zu verstehen.

Sartre versucht demgegenüber zu zeigen, dass der französische Existentialismus dem Marxismus nicht entgegengesetzt ist, sondern gegenüber dem zum Dogmatismus, letztendlich sogar zu einer neuen idealistischen Metaphysik, erstarrten ML-Marxismus, als dessen klügsten philosophischen Repräsentaten er Lukács selbst,1 gerade eine Wiederbelebung der ursprünglichen Marxschen Intuitionen darstellt. Denn dieser Marxismus ginge, anders als Marx selbst, nicht mehr von der konkreten Erfahrung des Individuums aus, sondern von platonischen Ideen vergleichbaren Schemata, die sich beliebig auf die Realität anwenden lassen, und wird damit zur theoretischen Rechtfertigung und Entsprechung der (post-)stalinistischen Diktatur. Dies gipfelt im zugleich sehr bescheidenem und unbescheidenem Fazit des Buches:

Der Existentialismus erscheint also als ein aus dem Wissen herausgefallenes Systemfragment. Von dem Tage an, da der Marxismus die menschliche Dimension (d. h. den existentiellen Entwurf) zur Grundlage des anthropologischen Wissens nehmen wird, hat der Existentialismus keine Existenzberechtigung mehr: aufgesogen, überschritten und aufbewahrt durch die totalisierende Bewegung der Philosophie, wird er aufhören, eine besondere Untersuchung zu sein, um die Grundlage aller Untersuchungen zu werden. (S. 194)

Wie dieser Satz genau zu verstehen ist, wie Sartre überhaupt zu dieser provokanten These kommt und wie er von dort aus seine umfassende Untersuchung der Bedingungen und Möglichkeiten dialektischen Denkens überhaupt in der Kritik („Kritik“ ist hier also im Kantschen Sinne, nicht in einer platten Negation des dialektischen Denkens zu verstehen) unternimmt, dies wird Gegenstand unseres Lektüreprojekts sein. Dabei ist unser Erkenntnisinteresse selbstverständlich nicht bloß historisch (was hat Sartre gesagt?), sondern Sartres Ansatz als auch für heutige Debatten fruchtbaren Versuch zu lesen, eine umfassende Antwort auf die wesentlichen Fragen nicht nur der Philosophie als akademischer Disziplin, sondern der kritischen Theorie als Selbstreflexion der „wirklichen Bewegung“, die zum Communismus treibt, zu geben: Wie verhalten sich Theorie und Praxis zueinander? Was kann „Anthropologie“ in einem materialistischem Sinne heißen? Wo ist der methodische Ausgangspunkt bei der Erforschung und Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse zu nehmen? etc.

Diese und verwandte Fragen stehen nicht am Rand, sondern im Zentrum von Sartres sozialphilosophischen Reflexionen und sie lassen sich so als Einführung in die marxistische Philosophie und Philosophiekritik überhaupt lesen. Gleichzeitig muss dabei stets kritisch mitgedacht werden, ob Sartre seinem eigenen Anspruch (so dieser überhaupt sinnvoll ist), von der konkret-praktischen Lebenserfahrung des Individuums auszugehen, gerecht wird, ob er unserer heutigen Lebenserfahrung (noch) gerecht wird und ob es ihm tatsächlich gelingt, den Existentialismus in einem reformuliertem Marxismus aufzuheben. Doch vielleicht gelingt es Sartre tatsächlich, Aspekte kritischer Theorie begrifflich-stringent zu beleuchten, die in den heute dominanten Spielarten (Poststrukturalismus, Frankfurter Schule) verloren gegangen sind.

Diskutiert haben wir bisher nur das erste Kapitel. Ein Einstieg ist derzeit also sehr gut möglich. Der nächste Termin, in dem wir mit der Diskussion des zweiten Kapitels beginnen wollen, ist am 19. 7. um 18 Uhr im translib-Raum (3. Stock im IVI). Für weitere Fragen wendet euch an die E-mail-adresse des Sartrelesekreises, jpsartre [ at ] email.de. Eine umfassende Dokumentation der bisherigen Aktivitäten rund um den Existenzialismus in Frankfurt findet sich auf dem Blog La vache qui rit.

  1. „Es ist kein Zufall, daß gerade Lukács – Lukács, der so oft der Geschicht Gewalt angetan hat – 1956 die beste Kennzeichung für diesen Marxismus gefunden hat. Zwanzig Jahre Praxis geben ihm die nötige Autorität, diese Pseudophilosophie einen voluntaristischen Idealismus zu nennen.“ (S. 34; Herv. im Orig.) [zurück]